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Vom Höllenschlitten zum Festballon
Eine kleine Geschichte närrischer Wagen und Figuren

Günter Schenk


Der neuste Umzugstrend: Heliumgefüllte Ballonfiguren, die von kräftigen Helfern an Leinen geführt werden. Die Schönsten sind jährlich zum Thanksgiving-Tag in New York unterwegs.
Ein Schiff auf Rädern. Verkehrte Welt ist das und deshalb närrisch. Kein Wunder, dass das Narrenschiff längst zum Synonym fast aller fastnächtlichen Karossen geworden ist. Karnevalsprinzen und -prinzessinnen fühlen sich auf seinen Planken ebenso wohl wie Zunftmeister und andere No tabeln. Selbst das einfache Narrenvolk hat dort heute seinen Platz. Nur wenige aber kennen seine Geschichte – und die beginnt mit einem großen Missverständnis. Denn viele Generationen, vor allem die im nationalsozialistischen Geist erzogenen Jokus-Jünger, sahen im Narrenschiff ein germanisches Relikt. Ein fastnächtliches Vehikel, mit dem schon ihre Urahnen im Frühjahr durch die Lande gezogen seien.

Der Mythos wurzelt in einer Geschichte aus dem Mittelalter. Anno 1133, so heißt es, habe ein Bauer aus dem Dörfchen Cornelimünster ein Schiff auf Räder gesetzt und die Zunft der Weber veranlasst, es über Land ins benachbarte Aachen und weiter über Maastricht nach Löwen zu ziehen. „Da konnte man zeitweilig an tausend Menschen beiderlei Geschlechts sehen, wie sie bis Mitternacht die ungeheuerlichste und abscheulichste Abgötterei trieben“, beschrieb Abt Rudolf aus dem am Weg gelegenen flämischen Kloster Sant Trond damals das Treiben um das Schiff, mit dem augenscheinlich bestgelaunte Männer und Frauen unterwegs waren.

W as den frommen Herrn freilich damals so aufregte, war nach neuesten Forschungen kein Fastnachtszug, sondern ein vermutlich einmaliges Ereignis, das wegen seiner Originalität aber noch Jahrhunderte später die Menschen bewegte. Den Märchensammler und Germanisten Jakob Grimm zum Beispiel, der das Schiff zum Narrenschiff machte. „Es sind Spuren vorhanden, dass auch anderwärts in Deutschland zur Zeit des beginnenden Frühjahrs solche Schiffe umher gezogen wurden“, spekulierte er in seiner 1835 erschienenen „Deutschen Mythologie“. Karl Simrock, ein anderer namhafter Gelehrter, prägte wenig später in diesem Zusammenhang den Ausdruck „carrus navalis“, von dem die Wissenschaft schließlich das Wort Carneval herzuleiten suchte. Heute weiß man, dass es dieses Narrenschiff so nie gegeben hat, wie man es den Narren weismachen wollte, geschweige denn den lateinischen Terminus „carrus navalis“, den ein deutscher Germanist erst in der Romantik ersonnen hatte.




Das richtige Narrenschiff tauchte erst 1506 in einem deutschen Fastnachtszug auf. Höchstwahrscheinlich inspiriert von Sebastian Brants gleichnamigen Buch, das Albrecht Dürer illustriert hatte. Und wie bei Brant war auch das Nürnberger Narrenschiff eine Art Hölle, ein Sammlungsort der Gottesleugner, die im Mittelalter den Narren verkörpert hatten. „Diese Hölle“, schrieb Karl-Friedrich Flögel in seiner 1862 erschienenen „Geschichte des Grotesk-Komischen“, „war eine Ma schine von verschiedener Art, sie enthielt ein künstliches Feuerwerk, das man zum Ende der ganzen Lustbarkeit vor dem Rathause anzündete, manchmal auch erstürmte und verbrannte. Die vornehmsten Metamorphosen dieser Hölle waren: ein Haus, ein Thurm, ein Schloss, ein Schiff, eine Windmühle, ein Drache, ein Basilisk und Krokodil, die Feuer spieen; ein Elephant mit einem Thurm und Mannschaft; ein Riese, der Kinder fraß, ein hässlicher alter Teufel, der die bösen Weiber verschlang; ein Kram mit einer Krämerin, die allerhand Narrenwerk feil hatte; ein Venusberg; ein Backofen, worin lauter Narren gebacken wurden; eine Kanone, aus der man zänkische Weiber schoß; ein Vogelheerd, worauf man Narren und Närrinnen fing; eine Galeere mit Mönchen und Nonnen, ein Glücksrad, das lauter Narren herumdrehte u.f.f ...“

Flögels ausführliche Beschreibung macht klar, dass die ersten närrischen Wagen keinesfalls uniform waren, sondern jedes Jahr mit neuen Ideen und Einfällen gespickt. Gewöhnlich waren sie auf Kufen montiert. Nur wenn kein Schnee lag, montierte man kleine Räder daran, um sie vom einen zum anderen Spielort zu ziehen. In der Regel führten sie den Zuschauern die mittelalterliche Narrenidee vor Augen, erinnerten am Vorabend der Fastenzeit an die biblische Botschaft, dass es neben dem närrischen Weg nach Babylon auch einen himmlischen Weg nach Jerusalem gäbe. Diese „Höllen“, wie man die Umzugswagen anfangs nannte, waren oft mit Teufeln bestückt. Immer aber mit Figuren, die in der damaligen Welt das Böse verkörperten. Dazu zählten wilde Männer und Weiber ebenso wie viele Tiergestalten. Theologische Programme waren das, die mit der Zeit zum Unmut staatlicher Autoritäten auch politisch interpretiert wurden. 1539 etwa zeigten die Nürnberger auf ihrer Hölle den evangelischen Prediger Andreas Osiander, der sich mit scharfen Reden in der Stadt unbeliebt gemacht hatte. Ein provokanter Akt der meist katholischen Narren war das, der das Verbot aller Fastnachtszüge in der reformierten Stadt Nürnberg zufolge hatte und Martin Luther im Kampf gegen die Fastnacht weiter bestärkte. Ein provokanter Festwagen also war es genau betrachtet, der auf lange Sicht dazu führte, dass die Fastnacht in den protestantischen Regionen als öffentliche Feier vom Jahreskalender verschwand.


Der Donaueschinger Narrenvater in der Prunkkutsche mit Gretele und Schreiber. Ausschnitt aus der handgemalten Umzugsdarstellung des Jahres 1857. Noch heute präsentiert sich der Narrenvater auf einem eigenen Festwagen.


Fastnächtliche Spiele rund um einen großen Festwagen also, eingebettet in kleine Umzüge, standen am Anfang. Das blieb auch so in der Renaissance, als die närrischen Aufmärsche überall in Europa zu großen Spektakeln gerieten. Am augenfälligs ten in Florenz, wo die Medici und andere Herrschaftshäuser prunkvollste Züge organisierten, in denen sich christliche und antike Allegorien mischten. „Tri onfi“ hießen diese Züge, die versuchten, an die glanzvollen Zeiten römischer Herrschaft anzuknüpfen. In ihrem Mittelpunkt stand gewöhnlich ein von Pferden oder Ochsen gezogener, monumentaler Wagen mit der Hauptperson des Festes. Dahinter oder daneben Reiter, die seine Taten oder Tugenden illus trierten. In der Regel machte man auf allen großen Plätzen und Kreuzungen Station, sangen die Akteure Lieder, die dem Publikum das Zugthema näher bringen sollten.

Im 18. Jahrhundert fanden die närrischen Paraden in maskierten Schlittenfahrten des Adels und der Lateinschüler ihre Fortsetzung. 25 bis 200 Gefährte zählten diese Umzüge gewöhnlich, zu denen oft auch ein gedrucktes Programm erschien. Zettel, wie sie in Basel zur Fastnacht noch heute verteilt werden. Auch dabei ging es darum, zu Fastnacht allen vor Augen zu führen, welche Narreteien diese Welt ausmachen und wie man sie am besten erkenne. Viele der Züge waren nach literarischen Vorlagen gestaltet, nach Narrenbüchern, welche die Laster der Welt beschrieben.
Mit Vorliebe setzte man Sprichwörter satirisch in Szene. Eine Tendenz, die Anfang des 19. Jahrhunderts in den so genannten „Krähwinkliaden“ ihren Höhepunkt fand. Damit wurden Spießer, Bürokraten und Beamte verspottet. Die wörtliche Auslegung von Redewendungen wie „Der General lässt die Trommeln rühren“, öffnete den Blick in eine Welt, in der schrullige Käuze groteske und absurde Situationen schufen. Eine Szenerie, die im reformierten rheinischen Karneval ebenso wie später in der schwäbisch-alemannischen Umzugsfastnacht, welche das rheinische Vorbild kopierte, ihren Niederschlag fand.


„Höllen“ hießen die Festwagen beim Nürnberger Schembartlauf, dem populärsten mittelalterlichen Fastnachtsbrauch. Das Bild zeigt eine Szene aus dem Jahr 1539 mit dem protestantischen Prediger Osiander im Mittelpunkt, über den sich die Nürnberger Narren damals lustig machten. Der protestantische Rat verbot daraufhin alle närrischen Umtriebe.


Mit der Reform der Fastnacht, 1823 in Köln groß in Szene gesetzt, betrat die närrische Bühne „Held Carneval“, der als König oder Fürst die Fastnacht personifizierte. Statt wie früher auf Schlitten, war die närrische Gesellschaft jetzt in Kutschen unterwegs. In festlich geschmückten Zwei- oder Vierspännern, die den Rest des Jahres über zum Personentransport dienten. Wie vor der Fastnachtsreform, wurde die Fastnacht weiter als närrisches Spiel verstanden, diente der Umzug in der Regel nur als Rahmen verschiedenster theatralischer Aktionen. Der größte Umzugswagen gebührte so dem Bühnenstar, dem närrischen Herrscher, zu dem sich schnell eine Frau gesellte, die bis in die nationalsozialistische Zeit gewöhnlich von einem Mann verkörpert wurde. Aber auch der närrische Hofstaat, von den Ministern bis zur Hofkapelle, fand schließlich auf eigenen Wagen Platz. Auf Hofkarossen, deren schönste man in Anlehnung an die Renaissance Triumphwagen nannte.

Zunehmende Liberalisierung, verbunden mit dem Wunsch nach gesellschaftlicher Kritik, brachte schließlich eine neue Art von Festwagen mit sich. Auf Bauernwagen machten sich kostümierte Gruppen über Zeiterscheinungen wie die zunehmende Industrialisierung, Modegags oder Lebensmittelpanschereien lustig. Karikaturen auf Rädern ergänzten so die Triumphwagen des romantischen Karnevals. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in Europa schließlich sollte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Wagenbau weiter verändern. In den närrischen Metropolen Köln, Mainz, Nizza oder Viareggio übernahmen Spezialisten die Gestaltung der Züge, entwarfen Architekten oder Maler die Festkarossen am Zeichenbrett, die Handwerker schließlich bauten.

Spätestens Ende des 19. Jahrhunderts war die Fastnacht in den großen Städten so kein närrisches Spiel mehr, sondern Schau für Einheimische und Fremde. Ein Wandel, den Industrie und Handel ebenso beförderten wie die Tourismusplaner, die mit dem Karneval ein neues Angebot für die Wintersaison hatten. Ochsen und Pferde wurden von Traktoren als Zugmaschinen abgelöst, sodass man die Wagen noch schwerer und damit auch länger machen konnte. Besonders augenfällig zeigte sich diese Entwicklung in Italien, wo man in Viareggio bis heute Wagen mit haushohen Aufbauten auf die Strecke schickt. Gigantisch ist inzwischen auch der Aufwand beim Herbstkarneval im Süden Englands, wo mehr als dreißig Meter lange Festwagen unterwegs sind. Eine Art Disneyland auf Rädern, das von Millionen Glühlampen illuminiert an den Zuschauern vorbeizieht.

Farbenpracht und technische Raffinessen bestimmen heute weltweit das närrische Bild in den großen Städten. Bodenständiger Humor, wie er auf dem Land noch lebt, ist dort nicht mehr gefragt. Schließlich sollen die Festwagen Eindruck machen, die Leute zum Staunen bringen. Dies entspricht auch dem jüngsten Trend, den riesige Gummifiguren setzen. Gasgefüllte Ballons, die beim Umzug an festen Schnüren mitgeführt werden. Bunte Comicfiguren und Gestalten aus der Welt des Märchens, luftige Fabelwesen, welche Alt und Jung verzaubern.

Der Auftrag des Narren, die Welt auf den Kopf zu stellen, sich einmal im Jahr kritisch aus dem Fenster zu lehnen, ist zur Selbstdarstellung verkommen. Immer stärker werden die Fastnachtszüge zur narzisstischen Modenschau, beflügelt von Juroren und professionellen Festgestaltern, die Äs thetik und Perfektion höher schätzen als Spontaneität oder Originalität. Die Zeiten jedenfalls, als provokante Festwagen noch Karnevalsverbote nach sich zogen, scheinen längst vorbei.

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